Die Nase voll haben, ist nicht das Gleiche wie Aufgeben

Wer wie ich auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, kennt vielleicht die Kraft der verinnerlichten Glaubenssätze wie "Jeder packt mit an, egal wie alt!" oder "Wenn die Aufgabe ansteht, wird sie gemacht, egal wie das Wetter ist!". Das Auswandern in ein fremdes Land bringt auch gerne mal Überzeugungen mit sich wie "Durchkämpfen und bloß nicht anecken". Aber egal ob Bauern-, Migrations-, Arbeiter- oder Akademikerfamilie, wer nicht das Glück hatte, bedürfnisorientiert erzogen worden zu sein, hat nicht selten mit inneren Antreibern zu tun, die einen zur Anstrengung und zum Durchhalten bewegen. Antreiber, die einem Kräfte verleihen und Erfolge sichern ... aber auch mal weiter treiben, als gut für einen ist. Denn Aufgeben ist ja keine Option, erst recht nicht, wenn es schwierig ist. Aber wie wäre es mal mit "die Nase voll haben"?
Die Psychologie des "Die Nase voll haben"
Psychologisch betrachtet stellt das Gefühl, "die Nase voll zu haben", einen wichtigen Indikator dafür dar, dass etwas in unserem Leben nicht (mehr) stimmt. Es ist eines unserer inneren Alarmsysteme, das uns sagt: "Hey, du da! Ja, du! Es ist Zeit für eine grundlegende Veränderung!" Nicht selten ist dieses Gefühl eine verzögerte Reaktion auf Verhältnisse, in denen wir uns in einem andauernden Wertekonflikt befinden, deutlich über unsere Grenzen gehen oder uns Systemen bzw. Dynamiken zur Verfügung stellen, die wir als untragbar empfinden. Die Kluft zwischen unseren Bedürfnissen und dem tatsächlichen Erleben der Verhältnisse wird dann so groß, dass die üblichen Beschwichtigungs- oder Kompensationsmethoden (wie z.B. Konfliktklärung, Erholung, Ablenkung, Schönreden) nicht mehr greifen. Die kognitive Dissonanz Reduktion versagt.

Was würde Buddha dazu sagen?
Die buddhistische Lehre betont die Bedeutung des Loslassens, um inneren Frieden zu finden. Das Konzept des Anattā, des Nicht-Selbst, lehrt uns, dass unser Leiden oft aus unserer Anhaftung an Dinge und Vorstellungen resultiert. "Die Nase voll haben" kann ein wichtiger Weckruf sein, unsere Vorstellungen von uns selbst und unsere Wahrnehmung von den Verhältnissen, unter denen wir leiden, zu überprüfen. "Halte ich hier durch, weil ich anderen und mir etwas beweisen will?" oder "Unterstützen diese Situationen heilsames Miteinander?" können aufrüttelnde Fragen sein. Solange wir nicht zu den Erleuchteten zählen, kann es geboten sein, sich aus Verhältnissen zu befreien oder von Menschen abzuwenden, die einem körperlich oder geistig schaden. Dabei ist nicht selten die größte Herausforderung, die eigenen Vorstellungen loszulassen, wie man glaubt selbst sein zu wollen – oder wie die Verhältnisse sein sollten. Das Loslassen eines Kampfes und das Zulassen der Ent-Täuschung kann die Freiheit schenken, neu auf das Leben zu schauen.

Die transformative Kraft des Aufhörens
"Die Nase voll haben" kann eine transformative Kraft entfalten. Es ist ein Signal unseres Körpers und Geistes, dass etwas nicht stimmt und Veränderung notwendig ist. Dieses Gefühl kann uns dazu anspornen, mutige Entscheidungen zu treffen und uns aus Situationen zu befreien, die uns und anderen nicht guttun. Die Kündigung, die Trennung oder ein Rücktritt kann somit als ein kraftvoller Akt der Selbstermächtigung und der Neuausrichtung auf ein erfüllteres und gesünderes Leben verstanden werden.